Virtual Reality: Therapie und neue Lebensqualität  [21.02.18]

Bewegung auf grüner Wiese oder eine entspannende Bootsfahrt auf dem Bodensee statt trister Krankenzimmerwände: Mit diesem Angebot will ein Start-up der Uni Hohenheim Patienten in Krankenhäusern und Menschen mit eingeschränkter Mobilität zu mehr Lebensqualität verhelfen. Das Uni-Spin-Off ANDERS VR produziert maßgeschneiderte Visualisierungen in Virtueller Realität und entwickelt eine selbstlernende App, die sich auf individuelle Anforderungen einstellt. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie sowie der Europäische Sozialfonds förderten das Start-up über das EXIST-Gründerstipendium mit 145.000 Euro.

Einer der ersten Probanden bei Testübungen mit der Virtual Reality-Brille: Yoga vom Sofa aus. | Bildquelle: ANDERS VR


Karl ist 90 Jahre alt und macht zum ersten Mal im Leben Yoga – vom Sofa aus. Sein Zimmer im betreuten Wohnen in Stuttgart-West muss er dazu nicht verlassen: Eine Virtual Reality-Brille bringt ihn auf eine grüne Sommerwiese, auf der ihm ein persönlicher Coach direkt gegenübersitzt. Die sanften Übungen kann er ganz entspannt mitmachen.

Karl ist mit 90 Jahren einer der ältesten Probanden, der das therapeutische Virtual Reality-Angebot der Firma ANDERS VR testet. ANDERS VR-Gründer Dr. Andreas Haas vom Fachgebiet Versicherungswirtschaft und Sozialsysteme der Uni Hohenheim und sein Team dokumentieren die Reaktionen ihrer Tester mit der Filmkamera und führen Befragungen durch, um die Virtual Reality-Inhalte kontinuierlich zu verbessern.

Die positiven Reaktionen von Karl und anderen Probanden haben sie in ihrer Idee bestätigt: Virtuelle Ausflüge in gewohnte Umgebungen mit therapeutischem Nutzen.

Virtuelle Realität als Ergänzung zur Psycho- und Physiotherapie

ANDERS VR bietet Patienten erstmals die Möglichkeit, mit 360-Grad-Aufnahmen für eine gewisse Zeit dem Krankenzimmer zu entfliehen. Über eine App können verschiedene Szenarien gewählt werden, zum Beispiel Naturaufnahmen, angeleitete Atemübungen oder Entspannungssequenzen und auch leichte Bewegungsübungen. In jedem Fall wird der Patient in die Natur gebracht: in den Sonnenaufgang auf dem Berg, in die Abendsonne am See, in den Wald oder auf eine Wiese.

ANDERS VR spricht mit zahlreichen eigens produzierten Inhalten verschiedene Fachbereiche und dadurch eine Vielzahl von Patienten im Krankenhaus an. Ein Fokus wird derzeit auf Krebspatienten und Patienten in der Schmerztherapie gelegt. Ebenso ist demnächst der Einsatz in der Orthopädie, bei Querschnittspatienten und in der Palliativmedizin vorgesehen.

Psychologische Belastung mit hohen Folgekosten

Für Dr. Haas und sein Team geht es darum, die bislang angebotene Betreuung nachhaltig zu ergänzen, um die psychologischen und physiologischen Folgen langer Krankenhausaufenthalte aufzufangen.

„Wir nehmen ein Problem mit gravierenden ökonomischen Folgen in den Fokus“, erläutert Wirtschaftswissenschaftler Dr. Haas. „Die psychologische Belastung des Patienten kann Einfluss auf die Behandlungszeit und auch den Behandlungserfolg haben, weil Therapien abgebrochen oder nicht gut angenommen werden.“

Geschätzte 300 Millionen Euro Folgekosten entstehen daraus pro Jahr. Und es könnten mehr werden, wenn Krankenhäuser aus Kostengründen weniger Therapeuten beschäftigen können. Entsprechend positiv sei der Zuspruch der Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, mit denen die Entwickler im Gespräch sind, so Dr. Haas.

Hintergrund: EXIST-Gründerstipendium

Das Start-up erhielt über das EXIST-Gründerstipendium eine Förderung in Höhe 145.000 Euro.

EXIST ist ein Förderprogramm des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi), das durch den Europäischen Sozialfonds (ESF) kofinanziert wird. Es richtet sich gezielt an Studierende und Wissenschaftler mit dem Ziel, eine nachhaltige Gründungskultur und technologieorientierte, wissensbasierte Unternehmensgründungen zu fördern.

In die Entwicklung sei bereits viel spezifisches Therapiewissen eingeflossen. Derzeit arbeite das Team daran, ANDERS VR möglichst gut in bestehende Abläufe im Krankenhaus zu integrieren. Nach Tests mit einzelnen kleinen Gruppen folgten weitere Pilotprojekte in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen.

Lernfähige App für individuell zugeschnittene Therapie-Angebote


„Wir simulieren bei unseren Tests die unmittelbare Umgebung und Bewegungsfreiheit des Patienten: Infusionskabel, Sitzpositionen oder auch die Ausmaße von Krankenbetten müssen berücksichtigt werden, um ausladende Armbewegungen zu verhindern“, erklärt Dr. Haas.

Solche Einstellungen soll die Software sich merken, aber auch das Nutzungsverhalten der Patienten verstehen, plant Dr. Haas. „Wenn ein Patient zum Beispiel regelmäßig längere Sequenzen bevorzugt, merkt sich das die Software und bietet in Zukunft präferiert Inhalte in der entsprechenden Länge an. Außerdem wird die Software nach jeder Sequenz kurz abfragen, ob diese dem Patienten gefallen und gutgetan hat.“

Die ANDERS VR-App richtet sich zunächst konkret an Therapeuten, die ihr eigenes Programm um ANDERS VR erweitern. “Wir bieten Therapeuten komplett neue Möglichkeiten, den Patienten auch über die verfügbare persönliche Therapiezeit hinaus zu unterstützen. In Zusammenarbeit mit den Kliniken wollen wir den Patienten motivieren und anleiten, die Zeit im Krankenbett sinnvoll zu nutzen und wichtige Übungen eigenständig zu wiederholen”, erklärt Manuel Döbele.

Virtual Reality neu denken


Mit bestehenden Virtual Reality-Angeboten haben die Inhalte von ANDERS VR wenig zu tun. „Die Angebote für den regulären Markt richten sich an Leute, die ein aufregendes Wow-Erlebnis haben wollen“, so Dr. Haas. „Unser Ziel ist es hingegen, die Nutzer zu beruhigen, zu unterstützen und zu begleiten. Hierbei müssen einige Aspekte berücksichtigt werden. Schnelle Kamerabewegungen sind tabu, die Ich-Perspektive in der Virtuellen Welt muss der tatsächlichen Position des Nutzers entsprechen - sonst wird den Nutzern schlecht oder schwindelig. Wir achten darauf und verhindern das.“

Vor allem fehle den Patienten Normalität, z.B. der Anblick eines Menschen, der keine medizinische Schutzkleidung trägt. Die Entwickler haben deshalb bewusst auf animierte Figuren und Umgebungen verzichtet, um das Erlebnis so realistisch wie möglich zu machen.

Solche Inhalte in hochwertiger Qualität herzustellen ist aufwendig. Mit im Team ist deshalb der Filmemacher Stefan Bünnig, der die sieben- bis 15-minütigen Filme erstellt. „Von der Konzeption bis zum fertigen therapeutischen Virtual Reality-Erlebnis vergehen zwei bis drei Monate“, erklärt Bünnig.

Für die hohen technischen Anforderungen der 360-Grad-Filme gäbe es bislang keine standardisierte Technik. „Wir bauen deshalb gerade unser eigenes Kamerasystem aus mehreren Kameras, deren Bilder am Ende zusammengesetzt werden.“ Die Werkstatt der Uni Hohenheim unterstützt die Gründer bei der mechanischen Konstruktion.

Personalisierte Inhalte für Demenzkranke

Schon jetzt arbeiten die ANDERS VR-Macher an Angeboten für weitere Zielgruppen, zum Beispiel für Demenzkranke. Ein erster Test in Kooperation mit der Demenzpflege Riedlingen sei überwältigend positiv verlaufen, berichtet Dr. Haas.

”Wir setzen bei den Demenzlotsen auf regionale Landschaften und Inhalte. Unter den Testern waren Personen, die sonst kaum mehr reden oder wenig auf äußere Reize wie Fernsehen reagieren. Das ändert sich beim Einsatz von unseren VR-Inhalten, in denen sich die Menschen wiederfinden. Wir sehen demenzkranke Menschen, die plötzlich wieder lachen, über das Gesehene reden und sich an Vergangenes erinnern.“

Attraktiv für Demenzkranke könnten personalisierte Inhalte sein, bei denen die Szenerie an die Biografie der Patienten anknüpft. „Ein Patient aus Norddeutschland könnte zum Beispiel einen Film zu sehen bekommen, der am Strand spielt“, führt Filmemacher Bünnig die Idee aus. „Auch Städte aus der Heimatregion, Bilder von lokalen Festen und Umzügen oder ein Sprecher mit heimischem Dialekt könnten diese Vertrautheit schaffen. Wir sehen hier einen spannenden Forschungsbereich, der noch ganz am Anfang steht.“

Anpassung der Hardware notwendig

Auch die nötige Hardware hat das Team von ANDERS VR an die vorgesehene Nutzung angepasst: Die VR-Brillen sind komplett desinfizierbar, für die Kontaktstelle zwischen Gesicht und Hardware haben die Gründer einen gepolsterten Lederaufsatz entwickelt und fertigen lassen. Die Hygienestandards im Krankenhaus werden dadurch erfüllt, und die VR-Brille kann auch in sensiblen Bereich des Krankenhauses, wie z.B. im OP-Saal, der Intensivstation oder auf einer Isolationsstation für Leukämiepatienten zum Einsatz kommen.

Eine spezielle Entwicklung im Altenheim hat ANDERS VR mit dem VR Demenzhut angestoßen: In einer Kooperation mit den Demenzpflege Riedlingen wird die VR-Brille optisch so verändert, dass der technische Charakter des Produktes verschwindet. Die VR-Brille wird in einen klassischen Hut integriert, der den Menschen optisch vertrauter ist als der heutige technische Charakter der Brille. Damit soll eine der derzeit größten Hürden im Demenzbereich – nämlich den Menschen die Brille aufzusetzen – deutlich vereinfacht werden.

Text: Dorothee Barsch


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